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Armut in Frankfurt: Frauen haben eine größere Belastbarkeit als Männer


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Inge (r.) und Christiane beim Interview im Hinterhof des Stadtteilbüros in Bockenheim. Sie kennen sich aus der Ada Kantine. Inge sagt über Frankfurt: „Sie wollen hier keine Armen haben, lieber reiche Banker.“

Inge (r.) und Christiane beim Interview im Hinterhof des Stadtteilbüros in Bockenheim. Sie kennen sich aus der Ada Kantine. Inge sagt über Frankfurt: „Sie wollen hier keine Armen haben, lieber reiche Banker.“ © Peter Jülich

Armut ist oft weiblich. Doch statt zu jammern, kämpfen viele Frauen nicht nur für sich, sondern kümmern sich auch um andere. In der Ada Kantine in Frankfurt bekommen sie nicht nur eine warme Mahlzeit, sondern treffen sich auch zum Austausch.

Schon als junges Mädchen liebt Inge die Lieder von Udo Lindenberg und singt extra laut seine Texte mit. Später macht sie zwei Studienabschlüsse in Soziologie und Pädagogik, jobbt nebenbei als Kurierfahrerin. „Bis es nicht mehr ging.“ Denn weil die gebürtige Frankfurterin unter schlimmster Migräne und an Epilepsie leidet, kann die heute 58-Jährige seit sie Mitte 30 ist nur noch maximal zwei Stunden am Tag arbeiten und muss bis heute mit wenig Geld auskommen. Gleichzeitig betont sie: „Ich bin aber kein Mensch, der zum Amt rennt.“

Überhaupt ist sie eine Kämpferin: Jahrelang hat sie ihren Mann gepflegt, bis er vor sechs Jahren starb. Und weil ihre Witwenrente nicht reicht, sammelt sie eben im Bahnhofsviertel oder Bockenheim Pfandflaschen: „Das Pfandgeld benutze ich, um Klopapier, Getränke oder auch Wolle zu kaufen.“ Daraus macht sie Socken oder Mützen, die sie an andere Bedürftige verschenkt. Anderen zu helfen sei selbstverständlich, sagt Inge. „Ein Akt der Nächstenliebe.“ Sie gibt zudem ehrenamtlich Nachhilfe für Geflüchtete. Wie sie sagt, teile sie mit Udo Lindenberg ihr Lebensmotto und zitiert einen seiner Songtexte: „Und ich mach mein Ding. Egal was die anderen sagen.“

An diesem sonnigen Herbsttag sitzt sie im Hinterhof des Stadtteilbüros in Bockenheim und häkelt beim Interview. Um sie herum sitzen ein paar andere Frauen, die ebenso mit wenig Geld auskommen müssen. Ihre Nachnamen will keine der Frauen in der Zeitung lesen. Sie kennen sich aus der Ada Kantine, tauschen sich über ihre Leben aus und manche von ihnen singen zusammen beim Ada Chor. In der Ada Kantine in Bockenheim können sie viermal die Woche kostenlos eine warme Mahlzeit bekommen. Einen Ausweis muss man in der solidarischen Küche nicht vorweisen.

„Armut ist oft eine Frau. Das fängt ja schon damit an, dass Frauen immer noch weniger verdienen als Männer“, sagt Anette Mönich, Initiatorin der Ada Kantine. Laut Bundesamt und Amtsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands von 2021 sind Frauen (16,5 Prozent) mehr armutsgefährdet als Männer (15,1 Prozent). Vera, die ehrenamtlich am Empfang arbeitet, erzählt, dass das Schicksal von Inge kein Einzelfall sei. „Frauen sind oft verantwortungsbewusster, kümmern sich mehr, halten aber auch mehr aus. Sie sind leidensfähiger als Männer und oft auch noch in alten Rollenmustern gefangen. Eine Frau kommt in die Ada Kantine nicht nur wegen des Essens, sondern um sich zu erholen und andere Menschen zu treffen. Sie genießt es, umsorgt zu werden, im Alltag muss sie ihren pflegebedürftigen Mann bedienen.“

Jammern sei nicht ihr Ding, sagt Inge. „Wozu? Das ist das Leben. Ich will das Beste daraus machen.“ Sie liebt Frankfurt, ist viermal die Woche hier, aber wohnen kann sie hier nicht mehr. „Ich musste aus Frankfurt raus. Die letzte Wohnung wurde luxussaniert. Eine Luxuswohnung kann ich mir nicht leisten.“ Sie fühle sich in Frankfurt nicht gewollt: „Sie wollen hier keine Armen haben, lieber reiche Banker. Dabei gibt so viele leerstehende Wohnungen.“ Ein Recht auf eine Sozialwohnung habe sie nicht, weil ihre Mutter und Schwester ein Haus hätten. „Dabei haben wir seit Jahren keinen Kontakt. Sie wollen nichts mehr mit mir zu tun haben.“ Inge hat drei Töchter, 38, 35 und 33 Jahre alt. „Aber ich hab nur noch zur jüngsten richtig Kontakt.“ Als junge Frau sei ihr die erste Tochter weggenommen worden: „Das Jugendamt hatte gesagt, dass ich zu wenig Geld habe, meine Tochter kam zu einer Pflegefamilie. Danach war ich nur noch am Funktionieren.“

Unweit von ihr sitzt Christiane (59). „Weil ich psychisch krank bin, werde ich von den meisten Menschen nicht ernst genommen.“ Christiane arbeitet in einer Behindertenwerkstatt: „Würdest du für 1,06 Euro die Stunde arbeiten gehen?“, fragt sie in die Frauenrunde.

Helfen

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Durch die Inflation bekommt die Ada Kantine von den Gästen immer häufiger die Anfrage, ob sie Lebensmittel mitnehmen können. Deswegen wollen die Ehrenamtlichen ergänzend zu kostenlosen Mahlzeiten jetzt Lebensmittel einkaufen und einmal wöchentlich eine kleine Unterstützung an die Gäste weitergeben: Dazu benötigen sie dringend Spenden:

Wer helfen möchte, kann Geld auf folgendes Konto überweisen: Initiative Zukunft Bockenheim, IBAN DE59 5005 0201 0200 7243 80, BIC HELADEF1822, Verwendungszweck: „Inflation frisst Lebensmittel“

FRAUEN IN FRANKFURT

Von den aktuell rund 759000 Einwohner:innen in Frankfurt sind knapp über die Hälfte Frauen, ein Drittel der Einwohnerschaft sind Migrant:innen.

In Frankfurt gibt es rund 15000 alleinerziehende Mütter (und etwa 1500 alleinerziehende Väter). Das heißt neun von zehn Alleinerziehenden sind Frauen, die den Lebensalltag für die Familie überwiegend alleine meistern. Alleinerziehende sind vor allem von Armut betroffen.

Die Stadt bietet diverse Hilfestellen speziell für Frauen an, umfassende Informationen unter www.frauenreferat.frankfurt.de,

06921230110, [email protected]

DIE FR-SERIE

Wie lebt es sich in Frankfurt? Dieser Frage geht die FR in der Serie „Frankfurt – meine Stadt“ bis zum 3. Dezember nach. Zu Wort kommen junge und alte Menschen, Familien und Geringverdienende. In Interviews, Porträts und Reportagen zeichnen wir ein Bild ihrer Stadt.

In dieser Woche geht es um Armut: An allem knapsen - sparsam leben in Frankfurt.

Eine Gleichaltrige, die weder ihren Vornamen noch Nachnamen erwähnt haben möchte, erzählt, dass sie in einer Dreier-WG lebt. Die 59-Jährige ist mehrfache Akademikerin, das sagt sie in einem Nebensatz und eigentlich ist es ihr unangenehm. Sie bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente. „Ich hatte mehrere Knochenbrüche.“ Mehr sagt sie nicht. Sie habe nicht viel Zeit, weil sie ihren Großvater pflege und gleich zurückmüsse. „Ich pflege zwar meinen Opa, aber ein anderer Verwandter kassiert das Pflegegeld ab.“ Es sei schwer, ihr Recht durchzusetzen. Dass sie ein großes Herz hat, merkt man sofort.

Sie hat drei Kinder und Enkelkinder, die sie sehr liebt. „Aber Kinderkriegen ist immer noch oft ein Rückstoß für Frauen. Wenn man zu Hause bleibt, wird man beruflich ein paar Jahre zurückgeworfen und es ist schwer wieder in die Berufswelt reinzukommen.“ Als sie eine junge Frau war, träumte sie davon, Ärztin zu werden.

Aber auch die 59-Jährige mag sich nicht selbst bemitleiden, sie unterstützt lieber Frauen, die aus dem Ausland hierherkommen, „die Sprache zu lernen“, und sie zeigt den Frauen auch Orte wie die Uni oder Sachsenhausen. Das macht sie alles ehrenamtlich. „Die Frauen sollen Frankfurt lieben lernen. Mich macht es glücklich zu helfen.“ Ihr eigenes Leben zu finanzieren sei wegen der Inflation noch schwerer geworden. „Alles ist so viel teurer geworden. Das Sonnenblumenöl, das noch 98 Cent gekostet hat, kostet jetzt im Sonderangebot 3,98 Euro“, sagt sie.

Armut werde nicht von allen gesehen. „Viele sind so sehr mit ihrem eigenen stressigen Leben beschäftigt, dass ihnen die armen Menschen nicht auffallen. Das ist bestimmt nicht böswillig gemeint.“ Und doch betont sie: „Wir sind Menschen. Wir verdienen es, angeschaut zu werden, gesehen zu werden.“

Zum Abschluss sagt sie noch, bevor sie wieder los muss, um ihren Großvater zu pflegen: „Frankfurt ist Frankfurt. Es gibt viele, die Geld haben. Und andere, die aus bestimmten Gründen den Weg verloren haben und jetzt Schwierigkeiten haben anzukommen. Sie leben jetzt ein Leben, das ganz anders ist als das Leben, das sie sich vorgestellt haben, als sie jung waren.“

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Author: Benjamin Smith

Last Updated: 1704640562

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Name: Benjamin Smith

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